"Aber das Feuer kommt nicht zu uns", hörte der Junge die Frau sagen, die das Haus besaß. "Es ist zu weit weg."
"Da können wir von Glück reden", sagte die Mutter, "daß wir den Zug verlassen haben und in dieses Dorf gekommen sind. Sonst wären wir jetzt in der brennenden Stadt."
Der Junge ging ans Fenster und wunderte sich über die vielen Leute, die alle auf den nahegelegenen Berg stiegen, obwohl es mitten in der Nacht war. Er zog sich schnell an und lief nach draußen, den Leuten nach.
Oben angekommen, sah er nichts weiter als eine Röte am Horizont, die Versammelten starrten wie gebannt auf sie. Und dann wurde sie für Sekunden heller, als würde jemand in ein glühendes Brikett pusten. - Plötzlich faßte ihn die Mutter an der Hand, und sie schimpfte nicht, daß er aufgestanden und ihr und den vielen Leuten nachgegangen war.
"Da können wir von Glück reden", sagte sie.
"Wenn wir kein Glück gehabt hätten", dachte der Junge, "wenn wir bis in die Stadt weitergefahren wären... Sie hätten uns bestimmt in einem Kino untergebracht, in einer Turnhalle... Für so viele Menschen hätte es doch gar nicht genügend Bunkerplätze gegeben. Und ob man sie auch rechtzeitig erreicht hätte?"
Er sah sich durch die Stadt rennen, sah, wie überall die Scheiben zersprangen und die Flammen aus Fenstern und Türen schlugen, aber vor ihm auswichen, sah, wie eine verlassene Straßenbahn mit Anhänger umkippte, wie vereinzelte Dachziegel auf seinen Kopf fielen, ohne ihn zu verletzen, weil er über eine Stoffpuppe, aus der das Werg hervorquoll, stolperte und wie er sie aufhob, wie er mit ihr in ein Kellerloch stürzte, während über ihm das Haus zusammensackte, und wie es vor seinen Augen dunkel wurde... Doch immer wieder fühlte er seine Beine, seine Hände -, so warm, so lebend. "Wenn man sich doch bloß den Tod vorstellen könnte", dachte der Junge.
Fortwährend starrte er zum Horizont. Fortwährend verharrten die Leute auf dem Berg.
"Mir ist kalt", sagte der Junge.
"Ja, wir gehen wieder", sagte die Mutter. "Das Feuer kommt nicht zu uns."
Am nächsten Morgen erzählte er der Mutter, was er geträumt hatte. "Ich befand mich auf einem Berg, inmitten von vielen Leuten. 'Die Stadt wird bombardiert', sagten sie und blickten zum Horizont, der ab und zu heller und wieder dunkler wurde. So eine schöne funkelnde Röte... Zwischendurch bin ich durch die Stadt gelaufen und habe die vielen einstürzenden Häuser gesehen."
"Heute nacht warst du wirklich munter", sagte die Mutter. "Hast Stimmen gehört und bist aufgestanden. Sahst Leute den Berg hinaufsteigen und bist ihnen nachgelaufen. Oben haben wir uns getroffen, und beide haben wir den Krieg gesehen. Hast mich gefragt, warum das Feuer nicht gelöscht werde. Habe dir geantwortet, daß so ein großes Feuer gar nicht gelöscht werden kann, weil bestimmt auch Feuerwehrautos und Feuerwehrwachen von den Flammen zerstört worden sind. Dann hast du noch gefragt, warum denn die Leute so gerne zusehen, wenn irgendwo ein großes Feuer ist. Antworte dir, daß es so ein großes Feuer noch nie gegeben hat und daß man auch gar nicht schlafen kann, wenn die Stadt, wenn der ganze Horizont brennt. Und dann hast du noch gefragt, warum es zu so einem großen Feuer überhaupt gekommen sei."
"Nein!" sagte der Junge. "Das war doch nur ein Traum!" Aber er grübelte, weil er sich von dem, was er gesehen hatte, nicht lösen konnte. Bis die Hausbesitzerin kam und sagte, die ganze Stadt sei in Schutt und Asche versunken. Da wußte er, er war nachts wirklich aufgestanden, und er hatte die Röte am Horizont, die ab und zu heller und wieder dunkler wurde, gesehen. Und daß er versucht hatte, sich den Tod vorzustellen.
Er fragte die Mutter, ob sie sich den Tod vorstellen könne. Sie antwortete nicht gleich. Dann sagte sie: "Wir sind nicht dafür geschaffen, das zu denken; denn im Kopf und auch im Körper jedes Menschen sind so viele Gedanken, die die Vorstellung, wie der Tod sein könnte, sofort verdrängen."
Immer wieder grübelte der Junge, wie der Tod sein könnte. Immer wieder blendeten ihn die Flammen, sah er sich unter eingestürzten Häusern liegen.
Doch um so stärker bildeten sich um seine Haut Schutzschichten, die den Flammen widerstanden. Er fand Hohlräume unterm Schutt, in denen er atmen, fand Durchgänge, durch die er schlüpfen und sich lebendiger denn je fühlen konnte.