Unbekannte Reise nach Irkutsk

Akademgorodok

Im Geologischen Institut wurde uns eine alte Diamantenkarte gezeigt. Selbst die BAM – Baikal-Amur-Magistrale – war darin schon als Eisenbahnstrecke markiert und sollte 1888 bis 1901 gebaut werden. Aber wer sollte damals den 3200 Kilometer langen Strang durch ein Sumpfgebiet von über sechshundert Kilometern und über fünfhundert Kilometern Gebirge bei Minusgraden im Winter um fünfzig Grad legen? Wer sollte die über 1400 Brücken oder waghalsigen Viadukte über die Sümpfe bauen und die vielen Tunnel durch die Berge bohren? Selbst für den Prometheus-Sovieticus eine kaum lösbare Aufgabe.

Mir wurde ein Kästchen mit kleinen grauen nichtsagenden Stückchen unter Glas gereicht.

Mondgestein!, rief Antonina.

Ich schüttelte die grauen Steine, die sich nicht voneinander unterschieden: wie in den Staub gefallene trockene Hasenköttel. Das soll der Mond sein? – Dachte an den Song-Text: „Nun weiß die Wissenschaft im Grunde ganz gewissenhaft, dass sich die Fahrt zum Mond nicht lohnt.“

             Eine voluminöse, energiegeladene Frau, ihr Mund mit signalrotem Lippenstift wie ein Kunstwerk modelliert, erklärte mittels Zeigestock an der großen Landkarte die geologische Beschaffenheit von Sibirien. Sie ermahnte uns ständig mit dem langgezogenen Wort, nicht in dem museumsartigen Saal herumzustromern … Diiies … ziii … plin! – Konzentrierte Gesichter um sie herum, Delegationen aus den verschiedenen Gebieten. Fast alle hatten Abzeichen, Ehrenzeichen auf der Brust, auch eine stolze Studentengruppe in khakifarbenen Uniformen war mit buntem Aufmerksamkeitsmetall verziert … Die strenge „Kommissarsche“ mit dem Zeigestock, der wie ihr zweites Ich zu sein schien, beendete ihre Erklärungen mit dem Bonmot, dass man an der Größe Sibiriens selber groß werden könne.

aus:
Reinhard Bernhof
Unbekannte Reise nach Irkutsk
(2017)

Leipziger Literaturverlag
ISBN 978-3-86660-223-6