Für den 26. September 1989 war ich zu einer Lesung in die Alte Handelsbörse eingeladen, die innerhalb einer gemeinsamen Reihe des Komponisten- und Schriftstellerverbandes der DDR stattfand: "Musik und Lyrik". Ich war von der ersten Minute an hier und zugleich an einem anderen Ort. Für den gleichen Abend war kurzfristig ein Koordinierungstreffen des Neuen Forums festgelegt worden, zu dem ich erwartet wurde.
"Drei Lieder für Sopran, Violoncello und Klavier" gingen in aufreizend getragenen Tempi über das Publikum in der halbgefüllten Börse hin. Die Zuhörer wirkten still, abwartend. Niemand von ihnen schien Unruhe zu verspüren. Kurt Drawert las Gedichte, nervös, ein Geschütteltsein, Frösteln nicht verbergend. Mit wachsender Ungeduld hörte ich auf die darauf folgende Komposition "Und manchmal flüstern die Tropfen ..." und wartete auf meinen Auftritt. Ich las Gedichte über den selbstverständlich hingenommenen, von der "Parteiführung" mit unglaublicher Arroganz ignorierten Verfall eines Leipziger Stadtteils wie Gohlis und blickte zwischendurch in die Gesichter der Zuhörer. Ein konzentriertes Interesse schien da zu sein, ohne Räuspern und Schnauben, es fiel mir auf. Ich dachte an die unsichtbaren Risse in den zementierten Gedanken, die die einzige Hoffnung blieben.
Ich verließ die Veranstaltung während des folgenden Liedzyklus und fuhr in den Leipziger Osten. Mich beherrschte die heimliche Erwartung von etwas Unvermitteltem, alles Erschütterndem und befremdete mich im nächsten Augenblick selbst, wie ein Überschwang, dem nur Ernüchterung folgen konnte. Hin und wieder war von kleinen Gruppen zu hören, die sich nach dem Gottesdienst in der Nikolaikirche in die Innenstadt begaben und dort manchmal auch im Chor nach Demokratie riefen, aber Beachtung fand es kaum bei der Mehrheit der Leipziger. Zu schnell, zu gewaltsam wurde jede noch so spontane Bewegung erstickt.
Diffuses Licht flackerte mir entgegen, als ich in die öde Wohnung in der Zweinaundorfer Straße kam. Ich war schon ein paar Mal hier gewesen. Zwei, drei verwaiste Räume im Erdgeschoß, in denen nichts weiter stand als ein länglicher Tisch und ein paar Stühle. Keine Lampe, der Strom abgeschaltet. Zu meiner Überraschung waren nur wenige gekommen, sie saßen bei Kerzenlicht und gaben harte Umrisse auf den kahlen Wänden ab. Aus diesem kleinen Kreis sollten an diesem Tag die Kontaktleute des Neuen Forums hervorgehen, ihre Namen würden danach in allen Kirchen und Hochschulen der Stadt bekannt gemacht. Ich war betroffen. Wo waren die anderen, die bei den vorangegangenen Zusammenkünften da gewesen waren? Entmutigt? Zerstreut? Herrmann Schein, ein Theaterregisseur nickte mir zu. Michael Arnold, vorher bereits der inoffizielle Kontaktmann des Neuen Forums, der den Grünheider Erstaufruf mit unterschrieben hatte, vier, fünf andere, die ich nicht kannte, mehr nicht.
Die Abteilung "Inneres" im Rat des Bezirkes hatte mitgeteilt, dass dem Antrag auf Anmeldung der Vereinigung Neues Forum nicht stattgegeben werde. Für ihre Ziele gebe es in der DDR keine "gesellschaftliche Notwendigkeit". Alle Handlungen diesbezüglich seien sofort einzustellen. Es war die erwartete Reaktion, sie überraschte niemanden, wir mussten nach neuen Wegen suchen.
Ich hatte beobachtet, wie die Leute allmählich mutiger wurden, ihre Unterschrift für die Plattform des Neuen Forums zu geben, wenn ich sie deshalb ansprach. Mit mehreren hundert Unterschriften würden wir eindringlicher bei den Behörden nachstoßen, nur das konnte der nächste Schritt sein.
Arnold hatte einen matrizierten Zettel in der Hand und ergänzte, dass wir weiterhin an der Inanspruchnahme des Artikels 29 der Verfassung der DDR festhalten müssten. Die Bürger hätten ein Recht auf Versammlungsfreiheit und Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen ihre Interessen zu verwirklichen. Die gesellschaftliche Notwendigkeit des Neuen Forums den Funktionsträgern des Alten zu beweisen war Zumutung und Provokation zugleich. Mehr und mehr Bürger sollten sich darum in Eingaben an das Ministerium des Innern in der Berliner Mauerstraße wenden und die Zulassung fordern. Wenn wir sodann die Durchschläge dieser Schreiben bekommen könnten ...
Arnold drängte auf die Namen der Kontaktleute. Wer sich dazu bereit erklärte, musste allerdings wissen, dass er mit allen Repressionen der staatlichen Macht zu rechnen hatte. Am 22. September war das Neue Forum als staatsfeindliche Organisation abgestempelt worden.
Der Regisseur wehrte ab, da er in Berlin arbeite. Auch ein Wissenschaftler der Deutschen Hochschule für Körperkultur äußerte Bedenken. Er befürchtete die sofortige Entlassung. Verlegenheit entstand, eine angespannte Pause.
Arnold blieb gelassen und leise. Ein jeder müsse nach eigenem Ermessen entscheiden, sagte er. Nach seinem Gewissen. - Ein betretenes Schweigen lag im Raum. Fast alle sahen nach unten. Wie groß war der Schaden bereits durch Beherrschung?, fragte ich mich. - Unehrlich gegen sich fast jeder. - Schließlich waren vier bereit, darunter auch ich. Vier Kontaktmänner, keine Frau war anwesend. Aber im Laufe der Nacht und des darauf folgenden Tages stellten sich noch weitere Personen zur Verfügung, so dass die allerersten Kontaktmänner, die ich auf einem vergilbten Handzettel in meinem kleinen Archiv finde, folgende Personen waren: Frank Pörner, Reinhard Bernhof, Uwe Schwabe, Klaus Hinze, Michael Raschke, Wolfgang Gerds, Johannes Brehm, Günter Menzel, Michael Arnold, Matthias Franzheld.
Schon wenige Tage darauf läutete das Telefon ohne Unterlass. Es waren Fremde, die anriefen, aus Plauen, Weißwasser, Torgau. Es verwunderte mich, dass sie so schnell meine Nummer erfahren hatten, ein leichtes, unwirkliches Gefühl erfasste mich. Sie verlangten nach Informationsmaterial des Neuen Forums, für sich, zur Weitergabe an andere. Vermutlich dachten sie, ich bekäme täglich Stöße davon geliefert. Aber ich hatte nur ein Exemplar, das ich auf meiner Schreibmaschine "Erika" mühsam verdreifachte, vervierfachte. Ich versprach zu schicken, was ich hatte, und lud sie nach Leipzig ein. Jeden Mittwoch siebzehn Uhr.
Für die erste Sprechstunde fertigte mir ein Bekannter dreißig, vierzig Kopien der Aufrufe mit den dazugehörigen Unterschriftenlisten. Ich glaubte mich gewappnet. Bereits am frühen Nachmittag erschien ein junger Mann. Er starrte mir durch glänzende Brillengläser in die Augen und bot eindringlich Hilfe an. Er arbeite als Ingenieur in einer Forschungsabteilung, nach Feierabend könne er am Computer Aufrufe und Unterschriftenlisten ausdrucken.
Von siebzehn Uhr an schrillte nicht nur das Telefon, sondern auch die Türklingel. Ich nahm ab, öffnete, rannte hin und her. Ein Mann aus Mittweida rief an und wollte hartnäckig die Ziele des Neuen Forums diskutieren. Nur die Grundrechte forderte es? Weshalb? Das sei zu wenig, viel zu wenig, sähen wir das denn nicht? Ich antwortete, dass wir uns danach auch allen anderen Problemen stellen würden, besonders der Ökologie. Er ereiferte sich, wollte nicht aufhören, kam in Hitze. Im Korridor warteten bereits mehrere Frauen und Männer, die mich misstrauisch und schüchtern musterten. Ich bat sie ins Wohnzimmer und sagte, um sie zu entspannen, dass wir sogleich die Revolution beginnen würden. Ich lachte und sah in ihren Gesichtern, wie sie plötzlich lockerer wurden.
Und wieder Schritte im Hausflur, Stimmengemurmel. Ein ganzer Trupp auf einmal. Als er den Treppenabsatz zu meiner Wohnung erreicht hatte, sah ich in neugierige Augen.
Sind Sie? ...
Ich bin ..., bestätigte ich, zwischen Lachen und Verblüffung, mit einem Empfinden etwa so, als wäre ich ein neuer Rezeptverteiler.
Ich holte Küchenstühle, Klappstühle, Sessel aus dem Arbeitszimmer. Eine Truhe. Eine Fußbank. Alle Zimmer waren plötzlich voller Menschen. Junge Leute in Turnschuhen, mit Stickern und den bekannten Aufnähern mit Jesaja-Wort. Sie setzten sich unaufgefordert auf den Fußboden, und ich merkte, dass es ihnen nichts ausmachte und sie es so gewohnt waren.
Unversehens war ich in der Mitte des Zimmers eingeklemmt. Na schön, sagte ich und kniete mich neben meinem Sessel hin. Machen wir weiter - obwohl noch nichts begonnen hatte.
Wir sollten uns erst einmal vorstellen, verlangte eine junge Frau, die ihren Mantel anbehalten hatte. Es waren verspannte Sekunden. Ich versuchte sie zu überspielen, mit Lässigkeit und humorvollen Bemerkungen, bis einzelne zögernd von sich zu sprechen begannen.
Eine ältere Frau, stachlige Haare, war Zahnärztin, ihr Mann spielte im Rundfunksinfonieorchester Leipzig. Aus Borsdorf bei Leipzig waren zwei Fotografen gekommen. Den Namen des einen habe ich behalten. Josef Liedke. Die Jungen in Sportschuhen kamen aus der Umweltgruppe einer Leipziger Kirche. In drei Mädchen, die lächelnd auf dem Teppichboden saßen, erkannte ich die Kindergärtnerinnen meiner Kinder. Zwei junge Männer von der Denkmalpflege, eine Physiotherapeutin ...
Das Telefon klingelte, klingelte, klingelte.
Ich stakte zwischen den Körpern zum Schreibtisch. Pfarrer Christoph Wonneberger von der Lucas-Gemeinde in Leipzig-Volkmarsdorf hatte angerufen. Ich wusste, dass er der eigentliche Initiator der Friedensgebete in Dresden war als er noch dort wohnte. In Leipzig fanden diese Gebete bereits seit 1983 statt, als nach Bekanntwerden des NATO-Doppelbeschlusses viele die Abrüstung für eine Utopie hielten. Ich nahm einige Male daran teil. Aber es waren manchmal nur sechs bis sieben Leutchen, die sich in die Kirche verirrt hatten ... Wonneberger fragte an, ob ich demnächst zu einer Lesung nach Volksmarsdorf kommen wolle. Ich sagte zu, ohne Genaueres aufnehmen zu können.
Ich freute mich über den Anruf. Wonneberger war neben Pfarrer Christian Führer einer der wenigen Mutigen, von denen ich gehört hatte, der bereits 1986 Arbeitsgruppen für "Friedens- und Menschenrechte" unterstützte und später mit vielen jungen und aktiven Leuten wie Kathrin Walther, Gesine Oltmanns, Thomas Rudolf, Rainer Müller, Oliver Kloß, Frank Richter, Steffen Kühhirt und anderen zusammengearbeitet hat. Er hatte sich ständig in einem unerhörten Kampf gegen Friedrich Magirius, den Superintendenten, zu verantworten gehabt, er hat sich ihm widersetzt und zumeist all seine Anordnungen unterlaufen. Wonnebergers Predigten waren mit politischen Anspielungen durchwürzt, und er hatte im Sommer bereits einen "Statt-Kirchentag" von unten organisiert. Auch am letzten Septembermontag hatte er in der Nikolaikirche entscheidende Worte für Zivilcourage und gegen Gewalt gefunden, so dass viele Jugendliche zum ersten Mal "We shall overcome" singend ein Stück zum Hauptbahnhof gelaufen sind.
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