Mathias war mit dem Schultornister in sein Baumhaus geklettert, das sich auf einem knorrigen und verwachsenen Weidebusch befand, um es weiter auszubauen mit Brettern, die der Bach, der daneben vorbeiplätscherte, angeschwemmt hatte. Vom Baumhaus aus betrachtete er das Grün und die weit entfernt liegenden Felder und Wiesen; er konnte den Himmel beobachten und die Vögel, die umherflogen und sich manchmal in seine Nähe setzten. Im Baumhaus kam er sich größer als auf der Erde vor, sogar klüger. Im Baumhaus lief er nicht Gefahr, von den Autos überfahren zu werden.
Auf einmal hatte sich ein kleiner Spatz vor dem Baumhaus hinaufgeschwungen. Mathias dachte, er müßte mit mir sprechen können, müßte ein Zauberspatz sein, der mir alle Fragen, die ich auf dem Herzen habe, beantworten könnte; auch darüber, warum ich lebe - und über die Ewigkeit.
Mathias fragte ihn in Gedanken: Hast du Lust, ein wenig mit mir zu sprechen?
Weißt du, ich kann von vielen Dingen reden, sagte der Spatz. Worüber möchtest du reden? Über nichts, sagte plötzlich Mathias. Er kicherte vor sich hin. - Dann sagte er: Über die Ewigkeit würde ich gern mit dir reden.
Ich bin schon immer auf der Erde, sagte der Spatz. Ich bin doch die Ewigkeit.
Glaub ich nicht, sagte Mathias.
Doch, sagte der Spatz.
Da regte sich unversehens die Weide und sagte: Du kleiner kecker Spatz, du kurzlebiges Geschöpf. Was weißt du schon von der Ewigkeit. Wenn jemand weiß, was die Ewigkeit ist, dann bin ich es, auf der du sitzt.
Aber der Spatz tschilpte ganz aufgeregt: Trage ich nicht ein Stück Ewigkeit in meinem Gefieder, auf meinen Flügeln?
Was haben deine lächerlichen Staubfasern mit der Ewigkeit zu tun, empörte sich die Weide und lachte.
Ich dachte, daß auch in meinem Dasein, in meinem Tschilpen etwas Ewiges verborgen liege. Ich wüßte sonst gar nicht, welchen Sinn mein Leben hätte.
Ist ja zum Lachen, sagte die Weide. Plustere dich nicht so auf und mach dich davon.
Abends fragte Mathias seinen Vater, wie es sich mit der Ewigkeit verhielt.
Wir sind alle ein Stück von der Ewigkeit, sagte der Vater. Du und ich, wir alle tragen ein Stück von ihr in uns. Auch dein Spatz, von dem du mir erzählt hast, trägt ein Stück von dieser Ewigkeit in sich. Jede Ameise mit ihren Laufbeinen. Jede Spinne mit ihrem Kreuz auf dem Rücken ...
Am nächsten Tag befand sich Mathias wieder auf dem Baumhaus, und der kleine Spatz kam erneut und tschilpte ganz aufgeregt. Mathias dachte, was haben seine graubraunen Flügel wohl mit der Ewigkeit zu tun? Und seine Pieptöne?
Um ewig zu sein, muß man doch auf der Stelle stehn, so wie mein Weidenbaum hier.
Das ist nicht Bedingung, sagte der Spatz.
Abends schnitt Mathias abermals diese Frage an, und der Vater sagte wieder, daß sogar im leisesten Tschilpen eines Spatzes etwas Ewiges verborgen liege. In jedem Vogellaut.
Reichlich übertrieben, dachte Mathias, bevor er einschlief.
Wenige Tage später wurde Mathias von einem schrecklichen Gewitter aus dem Schlaf gerissen. Taghelle Blitze zuckten, als risse das Himmelstuch entzwei, als würde das Land untergehen. Unentwegt tobte das Gewitter bis zum frühen Morgen. Auf einmal legte sich der Sturm, der Himmel klärte sich auf, und die Sonne brach wieder hervor.
Als Mathias nachmittags erneut an seine Weide kam, durchfuhr es ihn, denn sie war schwarz und ausgebrannt. Von seinem Baumhaus waren nur noch angekohlte Bretter übriggeblieben. Mathias war bitter enttäuscht, daß seine Weide nicht ewig war und daß sie der Spatz überlebt hatte ...
Was ist ewig?, fragte er sich. Dabei setzte er seinen Fuß auf den großen Feldstein neben der Weide. Wie lange mochte er schon an dieser Stelle liegen? Ob er ewig ist? Er fühlte den sonnenwarmen Stein durch seine Sandalen hindurch und sagte: Ja, ich spüre, daß er ewig ist. Da hörte er plötzlich den Stein prahlen: Wenn du wissen willst, was Ewigkeit ist, dann bin ich es, der dafür zuständig ist. Um ewig zu sein, braucht es meinen Ernst, meine Strenge - und vor allem meine Reglosigkeit ...
Mathias staunte und sagte: Ja, ich glaube dir, daß du ewig bist.
Auf einmal kam wieder der kleine Spatz angeflogen und war ganz stumm.
Ob er traurig ist, daß der Blitz die Weide und sein Baumhaus zerstört hatten? - Mathias glaubte, sie sei ewig. Dabei tätschelte er den dicken Feldstein und sagte: Dafür weiß ich nun ganz sicher, was ewig ist.
Darüber kann ich nur lachen, sagte der Spatz, hüpfte frech um den Feldstein herum, wetzte den Schnabel an ihm und flog davon.
Eines Tages sah Mathias wieder den kleinen Spatz am Feldstein seinen Schnabel wetzen. Als der Mathias entdeckte, sagte er: Bevor ich zu tschilpen beginne, bevor meine Sippe zu tschilpen beginnt, wetzen wir uns alle den Schnabel an dem dumpfen Ding da. - Und alle Vögel der Umgebung wetzen ihre Schnäbel daran. - Es wird nicht mehr lange dauern, bis er nur noch so klein ist wie ein Sandkorn. Dann wird abermals so ein Spatz wie ich kommen und ihn aufpicken, um seinen Magen damit zu reinigen. Und da wird genau ein Augenblick von der Ewigkeit vergangen sein.
Da hörte Mathias plötzlich ein mächtiges Grollen, als würde er sich in der Nähe eines Erdbebens befinden - und sein Fuß, mit dem er sich auf dem Feldstein abgestützt hatte, zitterte. Das Grollen, das nicht mehr aufhören wollte, mußte sich im Inneren des Steins befinden - der hatte vielleicht über den frechen Spatz eine Riesenwut bekommen und wollte mit dem Grollen nicht mehr aufhören.
Tage darauf, als Mathias im hohlen und ausgebrannten Stamm der Weide erneut seine Bude baute, erschrak er. Der Feldstein war von einem Netz von Rissen umgeben. Hat er tatsächlich so heftig gegrollt, daß er geplatzt war? - Die Risse verliefen kreuz und quer um den ganzen Stein herum. Mathias kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Ein Jahr später wuchs sogar ein Himbeerstrauch aus dem Stein. Da wußte Mathias, daß dieser endgültig erledigt war. Er dachte: Auch ich bin nicht unsterblich; auch von mir wird eines Tages kein Hauch übrigbleiben, vielleicht nur ein paar winzige Abdrücke in irgendwelchen Gegenständen, an denen keiner merkt, daß sie von mir stammen.
Abends im Bett dachte Mathias abermals über die Ewigkeit nach, daß er sich auf die Suche nach einer Welt begeben müßte, wo man niemals stirbt, in der alles ewig ist, so ewig wie die ägyptischen Pyramiden. Immer wieder war er mit diesen Gedanken beschäftigt. Selbst im Unterricht träumte er vor sich hin und sah sich in einer großen Stadt, wo nachts mit Leuchtbuchstaben die Worte, auf Rasterschienen laufend, zu lesen waren: Wer hier wohnt, hat das ewige Leben.