Ich kratzte mich ununterbrochen. Auch der Greis, der sich neben mir auszog und eine Sicherheitsnadel nach der anderen öffnete und mit diesen zugesteckt zu sein schien, kratzte sich, heimlich, damit es die anderen nicht sahen. Aber wie ich mich umdrehte, merkte ich, daß sich mein Nachbar, ein größerer Junge, dessen Schulterblätter aus dem abgemagerten Körper hervortraten wie zwei verstümmelte Flügel, auch eben kratzte. Alle zogen sich aus und kratzten sich, mal hier, mal da; selbst der alte Mann, der auf der marmorädrigen Sitzbank saß und noch immer seinen Kradmantel anhatte, rutschte hin und her und klopfte sich gegen die Gamaschen, die bockledernen, die er gerade ausziehen wollte, als säße drinnen etwas und bisse.
Dann ging ich ausgezogen vor die Tür, wartete auf meine Mutter und kam mir komisch vor, hielt ich doch meine Kleidungstücke gebündelt unterm Arm, für die Entlausung. Als meine Mutter endlich kam, ihre Blöße nur mit einem Handtuch bedeckt, und dann vor mir ging, ihre Kleidungsstücke ebenfalls gebündelt unterm Arm, wunderte ich mich über sie und mehr noch über eine ältere Frau, die wir überholten. Diese hatte einen eingezogenen Kopf, eine schlaffe Haut voller Falten, und ich versuchte mir vorzustellen, ob auch meine Mutter eines Tages so aussehen könnte.
Unter den Duschen befanden sich etliche Leute - und eine Russin in einem offenen weißen Kittel, die sich Herzlippen angemalt hatte, warf auf die nackten Körper eine Handvoll Schmierseife. Während ich unter den Wasserstrahlen die warmen Güsse genoß, die Sprudel und Spritzer, beobachtete ich die vielen splitternackten Körper, die sich alle im dichten, heißen Dampf bewegten. Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte, als ich die vielen Haarbüschel zwischen den Schenkeln der Frauen sah. Meine Neugier wurde immer stärker, zwang mir meine widerstrebenden Augen erbarmungslos dorthin zu wenden, wohin ich sie noch vor wenigen Minuten nicht zu richten gewagt hätte. Und dazu sah ich wieder zu meiner Mutter: die Haltung ihrer Beine, die helle makellose Haut ihres Rückens, das Profil ihrer Schultern. Eine neue Gefühlswelt schien sich in mir zu regen - und wenn ich meine Mutter zwischendurch berührte, spürte ich ihre warme, fein gekörnte Haut. - Ich sah zu einer dicken Frau mit rosigem Körper, die sich streckte und ihre hervorstehenden Brustwarzen anschwellen ließ, ihre Füße sahen aus wie Baumstümpfe - und sie waren ebenso schwer zu bewegen; sie mußte sie richtig aus dem Boden reißen, wenn sie sich in Balance halten wollte. Ein dürrer Mann, fast grün vor Alter, wurde rot, winkelte zitternd seine Knie an, schrubbte die eingewachsenen Fußnägel und fuhr sich nebenbei über seine mageren, eingefallenen Gesäßbacken. Und im Gegensatz zum Gesicht, den adersträngigen Armen und dem Hals, war der Körper eines anderen Greises fast weiß. Komisch, dachte ich, weiß auch der faltige Bauch, der herunter hing wie ein Lappen, und Beine, als hätten sie noch nie die Sonne gesehen. Ich spie einen Mundvoll Wasser aus und rieb mir übern Bauch; mir war, als lebe dort jemand, getrennt von mir, der mich abwechselnd peinigte und streichelte. Besser, es wäre niemand da drin, besser lebte es sich allein und ohne Hunger.
Ich sah, wie sich meine Mutter über die Brüste strich, sie hingen ihr schlaff herunter, und erinnerte mich, daß sie mir einmal gesagt hatte: Ich habe dir die Brust gegeben und dich mit Milch genährt ... Dann seifte mich meine Mutter ein. Obwohl die Schmierseife in meinen Augen brannte, sagte sie: Ganz anders als Tonseife. Und meine Mutter wusch mir mit einem Bastwisch alle Stellen des Körpers, wo sie noch Läuse vermutete.
Im Duschraum wurde es immer verschwommener, ein Nebel, der bald zerriß, bald wieder dichter wurde und mich umgab. Wie im Ruinenstaub kam ich mir plötzlich vor, als ich die Beleuchtung, die Milchglaslampen nur noch als blasse Monde sah. Auf dem Fliesenboden wäre ich bald auf einem Klecks Schmierseife ausgerutscht. Ich nahm ihn auf und wusch mich noch einmal selber. Dabei stellte ich mir vor, wie die Läuse durch die Wärme des Wassers unentwegt ihre klammerhakigen Beine lösten und aus den Verstecken meines Körpers fortgespült wurden, wie auch der Geruch des stinkenden Pferdekadavers, der mich, seit ich das von Fliegen umsummte Tier im Straßengraben gesehen hatte, ständig zu verfolgen schien. Jetzt aber, wo ich unter der Brause stand, versuchte ich mich auch von diesem Geruch zu befreien, ihn einfach abzuwaschen, konnte mir aber diese Vorstellungen daran nicht endgültig aus dem Gedächtnis waschen. - Als ich lange genug unter dem Wasserstrahl stand, der wohlig warm in Bächen und reißenden Flüssen über meine Haut stürzte und so schöne blinkende Perlen hinterließ, spürte ich, wie ich langsam einen neuen Körper bekam, eine neue Haut, ein neues Leben.
Die Russin kam und rief: Nix dawai! Nix dawai! - Sie sollten sich alle noch etwas gedulden, bis ihre Sachen entlaust seien.
So brauste ich mich unentwegt; auch die vielen Leute brausten sich noch immer - und manche mit erhobenen Händen, strahlendes Wasser in die Höhe schöpfend, bis das Wasser langsam lauwarm wurde. Als ich abgetrocknet im Gang vor einem Wandspiegel in meine grau-grünen Augen sah und mir mit einem Aluminiumkamm durch die verfitzten Haare fuhr, fühlte ich mich wie ein fremder Junge. Auf einmal stand meine Mutter hinter mir, sie trug einen durchsichtigen Unterrock, der ihr kaum über die Hüfte reichte, und steckte sich die Ohrringe an. Ihre Achselhöhlen gähnten wie zwei geöffnete Mäuler, und dünne schwarze Haare breiteten sich darin aus. Unversehens hielt sie inne; wie erstarrt sah sie mich aus dem Wandspiegel an, als hätte sie sich verloren und versuchte, sich in mir wiederzuerkennen. Und zwei winzige Perlen waren in ihren Augen, hartnäckig und kühn glänzten sie, daß sie mir vorkamen wie Messerspitzen.